Die erste Choleraepidemie in Deutschland

250 000 Deutsche starben 1831 an der Cholera, darunter Gneisenau, Clausewitz und der Philosoph Hegel.
In diesen Tagen ist es hundert Jahre her, daß die Cholera die deutschen Grenzen überschritt und furchtbare Verheerung in Deutschland anrichtete. Siebenmal in 64 Jahre kam die Cholera nach Europa, oft kam sie jahrelang nicht zum Stehen. Sieben Millionen Europäer erlagen während der sieben Choleraepidemien der Seuche, und in der ganzen Welt ist die Zahl der Opfer mit hundert Millionen Menschen nicht zu hoch beziffert. Allein die Hälfte dieser Opfer entfallen auf Asien, die Heimat der Cholera, auf Indien und China. Riesig war die Zahl der Opfer im Ganges Gebiet. Der Grund: die meisten Abwässer der Ganges Städte werden in den Fluß geleitet. Die religiösen Vorschriften der Hindus schreiben Bäder in diesem „heiligen Flusse“ vor und Mundspülungen mit Ganges Wasser. Wie die Seuche sich da blitzartig verbreitet hat, kann sich jeder ausmalen.
Niederbengalen ist das Ursprungsgebiet der Cholera. Von dort verbreitete sie sich 1817 zum ersten Male über Indien, wurde nach China eingeschleppt, und vernichtete elf Millionen Menschenleben. 1823 zeigte sie sich zum ersten Male auf europäischen Boden. Matrosen schleppten sie über das Kaspische Meer zum russischen Hafen Astrachan, wo sie aber nach kurzer Zeit erlosch. 1830 brachten abermals Matrosen die Krankheitskeime nach Astrachan, und dieses Mal war die Wirkung furchtbar. Fast die Hälfte der Astrachaner Bevölkerung erlag ihr. Wolgaaufwärts wanderte dann die Krankheit, kam über Kasan nach Nischni Nowgorod und wurde von dort von den Händlern der berühmten Messe, die fluchtartig den Ort verließen, über ganz Rußland verschleppt. Wenige Tage später war Moskau verseucht, wo in wenigen Wochen 5000 Menschen an der Cholera starben. Verhängnisvoll aber wurde die Cholera für die russische und polnische Armee, die sich anläßlich der polnischen Revolution in Kongreßpolen gegenüberstanden. Im Mai 1831 kamen auf beiden Seiten sämtliche militärischen Operationen zum Stehen, weil der bei weitem größte Teil der Heere cholerakrank war. Vom russischen Generalstab starben die meisten Offiziere, unter ihnen der Armeekommandeur Feldmarschall von Diebitsch- Sablkanski; in Warschau, wo über die Hälfte der Bevölkerung erkrankt war, starb der Vizekönig von Polen Großfürst Konstantin, an der Seuche.
Rußlands westliche Nachbarn, Preußen und Österreich-Ungarn, hatten ihre Grenzen gegen Rußland hermetisch abgesperrt, um so das Übergreifen der Seuche zu verhindern. Die Ärzteschaft war damals zum größeren Teil der Meinung, daß die Verbreitung der Cholera, ähnlich wie die der Pest, von Mensch zu Mensch erfolgte. Danach wurden alle Abwehrmaßnahmen eingerichtet. Die Überschreitung der Grenzlinien wurde bei Androhung sofortiger Erschießung streng und ausnahmslos verboten. Allein mit den Flüssen aus Kongreßpolen kamen die Krankheitskeime nach Preußen und Österreich-Ungarn.
Bei der damals geringen Zahl der Städte mit Wasserleitungen in diesen Gebieten war der Genuss von Flußwasser durchaus an der Tagesordnung, der Verbreitung der Krankheit also kein Hindernis entgegengesetzt. In Posen war die Cholera bereits Mitte Juli 1831 zuerst zum Ausbruch gekommen. Wenige Tage später war sie in Danzig, Thorn, Bromberg, Königsberg, Insterburg, Elbíng, in der ganzen Provinz Posen und an der Weichsel gab es keinen cholerafreien Ort. In Österreich-Ungarn war Galizien innerhalb weniger Tage verseucht von dort aus gelangte die Cholera nach Prag, wo sie furchtbar hauste, und nach Wien, wo die Zahl der Todesopfer in kurzer Zeit 2000 betrug. In Österreich verzichtete man in der Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Cholera zu bannen, auf weitere Absperrungsmaßnahmen.
In Preußen machte man einen zweiten Versuch, nachdem die Grenztruppen sämtlich von der Cholera ergriffen worden waren. Man errichtete mit Truppen aus den preußischen Mittel- und Westgebieten einen neuen Grenzkordon an der ganzen Oder entlang. Aber auch das half nichts. Anfang August waren Stettin und Frankfurt (Oder) ebenso wie die ganze Neumark von der Krankheit ergriffen, es folgte Ende August Berlin, das man scharf gegen das flache Land abriegelte, um wenigstens das westliche Preußen zu retten. Auch diese Bemühungen waren zwecklos. Die in jener Zeit in Berlin und anderen Städten erschienenen Cholerazeitungen geben ein interessantes Bild davon, wie der Ausbruch der Cholera aufs Volk wirkte. Zunächst gab es in ganz Deutschland eine Cholerapanik; als Folge eine Hochkonjunktur der Kurpfuscher, die viele Millionen mit wertlosen „Choleraschutzmitteln“ verdienten. Die Absperrungsmaßnahmen vernichteten den Handel und schufen eine furchtbare Wirtschaftsdepression. In den von der Cholera betroffenen Städten wurden alle Versammlungen, Bälle, Theatervorführungen etc. verboten, selbst die Kirchen verödeten. Niemand wagte mehr aus dem Hause zu gehen. Als trotz größter Vorsicht an vielen Stellen dennoch die Cholera ausbrach und an andren Stellen trotz leichtsinnigen Lebenswandels die Krankheit sich nicht einstellte, verlor man jede Scheu vor der Krankheit. Und noch während die Cholera wütete, ging schließlich alles wieder seinen gewohnten Gang. Mit gutem Beispiel ging der Berliner Hof voran, der trotz der Todesfälle in der Hofgesellschaft so tat, als sei nichts geschehen und weiter Empfänge und Bälle veranstaltete.
Inzwischen war in Posen Feldmarschall von Gneisenau, der die Grenztruppen kommandiert hatte, an der Cholera gestorben. Im September brach die Cholera in Breslau aus. Im November starb dort an ihr Gneisenaus Generalstabschef, der berühmte Militärschriftsteller General von Clausewitz, zur gleichen Zeit in Berlin der Philosoph Hegel.
Von Stettin aus gelangte die Seuche nach Stralsund, Rostock und Lübeck, nach Kopenhagen brachten russische Schiffe, und Hamburg und Magdeburg sowie die anderen Elbstädte, darunter Dresden, hatte sie noch im Herbst 1831 in ihren Mauern. Aber auch West- und Süddeutschland blieben keineswegs verschont. Auch Köln, München und Nürnberg hatten unter der Cholera sehr zu leiden. Sonderbarerweise blieben drei deutsche Städte von jeder Choleraepidemie verschont: Hannover, Frankfurt (Main) und Stuttgart. Man führt das auf besonders günstige Trinkwasser- und Kanalisationsverhältnisse zurück. Die Zahl der Todesopfer der Epidemie von 1831/32 betrug allein in Deutschland 250 000, davon 100 000 in der Provinz Posen.
Aus Deutschland kam die Seuche nach Holland insbesondere Rotterdam und Amsterdam, nach England, wo sie in Edigburg und London zuerst bemerkt wurde und dann nach Frankreich, wo sie in Südfrankreich ganze Orte entvölkerte. In Paris erkrankten über 30 000 Menschen, von denen 18 406 starben. Über Italien und Spanien gelangte die Cholera mit Auswanderern nach Amerika, wo die Krankheitsfolgen insbesondere in den Hafenstädten furchtbar waren. 1837 trat die Cholera über Rußland ihren zweiten Europafeldzug an, kam aber über die Provinz Posen und die türkischen Balkanstaaten nicht hinaus. Über Syrien erreichte sie Europa zum dritten Male im Revolutionsjahre 1848, wo der revolutionäre Elan durch die Cholera stellenweise erheblich gedämpft wurde. Preußen blieb indessen diese Mal verschont; West- und Süddeutschland hatten am meisten zu leiden. 1859 nahm die Seuche ihren Weg wieder über Rußland, kam aber nur bis Posen, Ost- und Westpreußen und bis Böhmen, suchte dafür aber mit furchtbarer Gewalt Skandinavien heim. Zum fünften Male gelangte die Cholera von der arabischen Küste 1865 nach Südeuropa, wo eine Million an dieser Epidemie starben, die bis 1875 dauerte und erst dann erlosch. 1866 trat sie in Österreich-Ungarn auf, und während des preußisch-österreichischen Krieges hatten beide Heere große Verluste durch die Cholera. Die preußischen Truppen brachten die Krankheit in die Heimat mit, und abermals hielt der Tod reichlich Ernte. In der Hauptstadt Berlin und Umgebung starben gegen 7000 Menschen bei einer Einwohnerzahl von 670 000, von denen jedoch viele geflüchtet waren. Bis 1875 wanderte die Seuche jetzt in Europa und trat bald hier, bald da auf. 1884 wurden wieder die südfranzösischen Häfen, bald danach ganz Frankreich, Spanien und Italien von ihr befallen, 1892 erneut ganz Rußland, wohin die Cholera wiederum über Astrachan kam. In Deutschland wurde nur Hamburg heimgesucht, wo in einem Monat von 16 956 Erkrankten 8605 starben. Der Hamburger Epidemie wird sich noch mancher entsinnen können. Hermann Löns hat als Cholerakorrespondent in dieser Zeit in Hamburg geweilt und deutsche Zeitungen ein interessantes Bild vom Verlauf der Epidemie in Hamburg gegeben.
1839 trat in Dresden der Europäische Hygienekongress zusammen, um über Abwehrmaßnahmen zu beschließen, nachdem 1883 Robert Koch den Choleraerreger, den Komma-Bazillus, entdeckt hatte und ein Schutzimpfserum gegen die Cholera gefunden worden war. Seitdem ist die Seuche gebannt. Europa wurde von ihr befreit.

Quelle: Neumärkische Zeitung 26. August 1931